12. Sep 2023

»Ich möchte die alten Mythen entlarven – ohne Rücksicht auf die Gefühle meiner russischen Landsleute«

Mythen – Propaganda, Volksmärchen, Fantasy – haben Russlands Krieg gegen die Ukraine den Boden bereitet. Mikhail Zygar verbreitete unmittelbar nach der Invasion in der Ukraine eine Petition gegen den Krieg und war daraufhin gezwungen, nach Deutschland zu fliehen. In seinem Jahrhunderte umspannenden und bis in die Gegenwart reichenden Buch »Krieg und Sühne« beschreibt er die Ursprünge von Russlands Imperialismus und zeichnet den Kampf der Ukraine gegen die russische Unterdrückung nach.

Aus der Einleitung von »Krieg und Sühne«

Dieses Buch ist ein Bekenntnis: Ich bekenne mich schuldig, die Zeichen nicht schon früher erkannt zu haben. Denn auch ich bin mitverantwortlich für den Krieg Russlands gegen die Ukraine, wie auch meine Zeitgenossen – und unsere Vorfahren. Auch die russische Kultur hat die Gräuel des Krieges mit ermöglicht.

Viele russische Schriftsteller und Historiker sind mitschuldig an diesem Krieg. Es sind ihre Worte, ihre Gedanken, die Putins Faschismus den Boden bereitet haben – obwohl nicht wenige von ihnen heute entsetzt wären, könnten sie die »Früchte« ihrer Arbeit sehen. Wir Russen haben nicht erkannt, wie tödlich die Vorstellung von Russland als einem »Großreich« war. (Sicherlich ist jedes Reich, jedes »Imperium« ein Unheil, aber über andere Imperien mögen andere Historiker urteilen.) Wir haben geflissentlich darüber hinweggesehen, dass die »große russische Kultur« über viele Jahrhunderte hinweg andere Länder und Völker verachtete, unterdrückte und vernichtete. Damit eine russische Kultur – befreit von Imperialismen – fortbestehen kann, müssen wir handeln. Wir müssen uns zunächst die Wahrheit über unsere Vergangenheit und unsere Gegenwart klar vor Augen führen.

Krieg und Sühne
Empfehlung

Der lange Kampf der Ukraine gegen die russische Unterdrückung
Hardcover
32,00 €

Die russische Geschichte, die ukrainische Geschichte, und in der Tat die Geschichte eines jeden Volkes enthält Mythen. Leider haben unsere Mythen uns in den Faschismus des Jahres 2022 geführt. Es ist an der Zeit, sie zu entlarven.

In diesem Buch geht es um Mythen und Menschen. Menschen, die vor hundert, zweihundert, dreihundert Jahren lebten und sich irgendwann in mythologische Gestalten verwandelten. Zwar starben sie, doch wurden sie nach ihrem Tod von den Historikern ihrer menschlichen Eigenschaften entkleidet: ihrer Schwächen, Leidenschaften, Zweifel und ihrer wahren Beweggründe. Sie wurden der unerbittlichen »Logik der Geschichte« unterworfen, die den Bedürfnissen derer dient, die die Macht innehaben.

Dieses Buch erzählt uns auch von unseren Zeitgenossen wie etwa Wolodymyr Selenskyj. Er und viele andere sind uns heute als reale Persönlichkeiten bekannt, aber auch sie werden schon bald zu unsterblichen und heroischen Figuren werden und uns in einer Generation wahrscheinlich bereits als legendäre Gestalten erscheinen. Und einer der Protagonisten dieses Buches, Putin, hat sich schon zu Lebzeiten in ein universales, wie aus einer anderen Welt stammendes Böses verwandelt. Ich werde versuchen nachzuvollziehen, wie das geschehen konnte.

Ich schreibe dieses Buch bewusst in moderner Sprache und im Präsens und bemühe mich, historische Begriffe zu verdeutlichen und Parallelen zur Gegenwart aufzuzeigen, damit heutige Leserinnen und Leser nicht nur das Wort, sondern auch den Geist der jeweiligen Zeit erfassen können. Dafür werde ich mir zudem die Freiheit nehmen, hin und wieder »in die Köpfe« historischer Persönlichkeiten zu schauen und mir auszumalen, was sie gedacht haben in Momenten der Entscheidung.

Ich möchte, dass dieses Buch auch in einem Jahrhundert noch verstanden wird; es soll auch zukünftigen Leserinnen und Lesern Einblick in unsere Gedankengänge ermöglichen. Aus diesem Grund habe ich versucht, alle Charaktere als lebende Menschen darzustellen und nicht als historische Denkmäler. Ich möchte die alten Mythen entlarven, ohne die Historiker zu schonen – ohne Mitleid mit den Idolen von gestern und ohne Rücksicht auf die Gefühle meiner russischen Landsleute. Natürlich kann dieses Buch Vergangenheit nicht ungeschehen machen und eine alternative Gegenwart herbeischreiben, aber es kann dazu beitragen, die Zukunft zu verändern. Nationalistische Geschichte ist eine Krankheit, an der viele Völker leiden. Das russische Volk kann die alten Mythen ausrotten, mit denen es infiziert ist.

Porträtfoto Mikhail Zygar
Autor:in

Mikhail Zygar, geboren 1981, ist ein russischer Journalist und Autor. Von 2010 bis 2015 war er Chefredakteur des unabhängigen russischen Fernsehsenders Doschd.

Seit 2004 bereiste ich die Ukraine viele Jahre lang als Journalist. In dieser Zeit konnte ich Interviews mit allen ukrainischen Präsidenten führen und lernte sehr viele Politiker, wichtige Unternehmer, bekannte Reporter und auch Geistliche kennen. Ich war bei vielen wegweisenden und symbolischen Ereignissen anwesend, von den Gesprächen zwischen den Präsidenten Leonid Kutschma und Wladimir Putin im Jahr 2003 bis hin zur Feier in der Gedenkstätte Babi Jar im Jahr 2021 anlässlich des 80. Jahrestages des Massakers an zehntausenden Juden durch die Nazis, bei der Präsident Selenskyj ein neues Denkmal enthüllte. Manchmal verbrachte ich auch längere Zeit in Kyjiw und in den umliegenden Regionen. So schrieb ich beispielsweise im Haus meiner Freundin Nadia in Butscha einen wesentlichen Teil meines Buches »Endspiel«. Inzwischen will Nadia allerdings nichts mehr mit mir zu tun haben: Weil ich Russe bin, hält sie mich für einen »Imperialisten«.

In den letzten Jahrzehnten habe ich auch als politischer Journalist in Russland gearbeitet, wobei ich mich bemühte, die hinter den Ereignissen verborgenen Ursachen und Beweggründe aufzudecken. Aufmerksam verfolgte ich die sich ständig verändernde Ukraine-Politik Russlands. Oft war ich entsetzt über das, was ich dabei hörte oder beobachtete, und ich habe nie einen Hehl aus meinen Überzeugungen als oppositioneller Journalist und Schriftsteller gemacht.  Im Jahr 2010 gehörte ich zu den Gründern des Fernsehsenders »Doschd«, des einzigen unabhängigen Nachrichtenkanals in Russland. 2014 wurde der Sender praktisch geschlossen, weil er aufrichtig und detailliert über den »Euromajdan« (in der Ukraine »Revolution der Würde« genannt) berichtet hatte. Beim Euromajdan hatten die Ukrainer, die der Korruption und des Machtmissbrauchs überdrüssig waren, die ukrainische Regierung gestürzt. Einen Monat vor der Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim mussten auf Anordnung des Kremls alle russischen Kabel- und Satellitennetzwerke »Doschd« von ihren Senderlisten streichen. Ich erinnere mich noch sehr gut an den 1. März 2014, als die russischen Senatoren (Mitglieder des Föderationsrates, des »Oberhauses« der Legislative) den Präsidenten ermächtigten, »russische bewaffnete Streitkräfte außer Landes einzusetzen« – womit sie praktisch dem Krieg gegen die Ukraine grünes Licht gaben. Am selben Tag teilte ich als Chefredakteur des Senders meinen Kolleginnen und Kollegen in einem Rundschreiben mit, dass wir von nun an, als Zeichen der Achtung für und der Solidarität mit der unabhängigen Ukraine, »v Ukraine« statt des im Russischen verwendeten »na Ukraine« schreiben würden, das von den Ukrainern als beleidigend empfunden werden konnte, weil die Präposition »na« die Ukraine eher wie eine Landschaft oder ein Teilgebiet denn als unabhängiges Land erscheinen lässt. Im Englischen hat »Ukraine« die Bezeichnung »the Ukraine« weitgehend verdrängt, während das Land im Deutschen noch immer überwiegend mit dem weiblichen Artikel bezeichnet wird.

Am 24. Februar 2022, dem Tag, an dem Putin eine groß angelegte Invasion der Ukraine befahl, verfasste ich einen Offenen Brief, der zunächst von mehreren russischen Schriftstellern, Filmemachern und Journalisten unterzeichnet wurde; später setzten zehntausende Russen ihre Unterschrift darunter. Hier ist der Wortlaut der Briefs:

»Der Krieg, den Russland gegen die Ukraine auslöste, ist eine Schande. Er ist unsere Schande, aber leider werden auch unsere Kinder und noch weitere Generationen von Russinnen und Russen dafür Verantwortung tragen müssen. Wir wollen nicht, dass unsere Kinder in einem Aggressor-Staat leben und sich schämen müssen, dass ihre eigene Armee ein unabhängiges Nachbarland angegriffen hat. Wir rufen alle Bürgerinnen und Bürger Russlands auf, zu diesem Krieg »Nein« zu sagen. Wir glauben nicht, dass eine unabhängige Ukraine für Russland oder irgendeinen anderen Staat eine Bedrohung darstellt. Wir glauben Wladimir Putins Behauptung nicht, dass das ukrainische Volk von »Nazis« beherrscht werde und »befreit« werden müsse. Wir fordern ein Ende dieses Krieges.«

Kurze Zeit später musste ich nach Deutschland fliehen. Während meines ersten Jahres in Berlin hatte ich die Zeit, sämtliche Interviews noch einmal durchzulesen, die ich in den vergangenen 18 Jahren in der Ukraine und in Russland geführt hatte. Und ich sprach mit hunderten Leuten, etwa mit Historikern wie Timothy Snyder oder Anne Applebaum über den Krieg – darüber, was uns hierhergebracht hatte, wo wir jetzt stehen. Aus diesen früheren und neuen Gesprächen entstand dieses Buch.

Das Buch umfasst zwei Teile. Es geht in ihm um Gegenwart und Vergangenheit – konkret um die historischen Mythen, aus denen die heutige Politik gewachsen ist und auf denen sie noch immer beruht. Sorgfältig und so unvoreingenommen wie möglich habe ich die historischen Quellen gelesen und versucht, die Ursprünge und Entwicklungen des brutalen Russischen Reiches nachzuvollziehen, die auch den derzeitigen Krieg ermöglichten. Dieses Buch ist nicht ein weiterer Versuch, eine Geschichte der Ukraine zu schreiben. Es ist vielmehr ein »Kriminalroman aus dem Blickwinkel des Verbrechers«, eine Chronik, wie Russland seit fünfhundert Jahren die Ukraine unterjocht. Das Buch erzählt vom langen Weg in diesen Krieg – und von dem Weg zur Bestrafung, der zweifellos noch vor uns liegt. Nadia, ich bin kein Imperialist. Und ich schreibe dieses Buch, damit auch andere nicht zu Imperialisten werden.

Auch im Gespräch